City of the Blind

Stadt der Blinden  (Premiere 23.10. 2015)

 ”Wenn wir nicht ganz wie Menschen leben können, sollten wir zumindest versuchen, nicht ganz wie Tiere zu leben”. José Saramago, Stadt der Blinden

Ein Stück für 5 Tänzer*innen und Livemusik

Regie/Choreographie : Maura Morales
Tänzer/innen: Claudio Rojas, Robert Gomez, Geraldine Rosteius, Ayberk Esen, Maura Morales, (Elia Lopez)
Komposition/ Livemusik : Michio
Bildbewegung/Bühnenbild: Lichtfront
Lichtdesign: Eva G. Alonso
Choreographische Assistenz: Giada Scuderi
Dramaturgie: Pablo Ley
Kostüm: Wunderwerk/Nouri Rahioui

Gefördert durch den Fonds Darstellende Künste e.V., durch die Kunststiftung NRW, durch das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen sowie durch das Kulturamt der Landeshauptstadt Düsseldorf
Eine Produktion der COOPERATIVA MAURA MORALES in Koproduktions mit Ringlokschuppen/Ruhr und Forum Freies Theater- FFT/ Düsseldorf

Die Blindheit des Körpers, die Auflösung der Bewegung von Pablo Ley Fancelli

Ein Fahrer, der vor einer rote Ampel steht, bemerkt plötzlich, dass er erblindet ist. Voller Panik bittet er um Hilfe. Fußgänger drängen sich um ihn herum. Was sie aber noch nicht wissen ist, dass der Fahrer der erste Betroffene einer hochgradig ansteckenden Epidemie ist, die die ganze Stadt, das ganze Land in Blindheit versenken wird. Eine Blindheit, die völlig anders als die übliche Blindheit ist. Wegen der Helligkeit, die die Blinden in ihren Köpfen sehen, wird sie »Weiße Blindheit« genannt.
Dies ist der Ausgangspunkt von Stadt der Blinden (im portugiesischen Original »Ensaio sobre a cegueira«, wörtlich »Essay über die Blindheit«), der Novelle von José Saramago, in der der Autor erforscht, wie sich eine Gesellschaft im wörtlichen Sinn im wirren Chaos dieser Weißen Blindheit auflöst. So beschreibt er die Krankheitsprävention, die Isolierung erkrankter Menschen, die allgemeine Panik vor der unbekannten Krankheit. Er wird die Blinden in Einrichtungen, ehemalige Irrenanstalten, einsperren, die sich bald von Orten der Quarantäne zu Internierungszentren und, sehr schnell, zu Konzentrationslagern wandeln. Dort müssen die Blinden gegen eine Vielzahl von Schwierigkeiten kämpfen: das Zusammenleben, die Machtkämpfe, die lebensnotwendige Nahrung, der dringliche Sexualtrieb, die unmögliche Sauberkeit, der Wunsch, Gewalt und Tod zu entkommen. Tatsächlich sind es die tausend Erscheinungsformen der Verzweiflung. So erschafft Saramago eine komplexe Metapher über die Blindheit oder – genauer gesagt – über die moralische Blindheit.
Ist es möglich, menschlich zu bleiben, wenn die moralische Blindheit uns dessen beraubt, was das Zusammenleben in einer strukturierten Gemeinschaft erträglich macht? Ist es möglich, menschlich zu bleiben, wenn alles auseinanderfällt? Wenn das Chaos die grundlegendsten Beziehungen der Gesellschaft (Familie, Gemeinschaft) so wie ihre komplexeren Strukturen (Armee, Regierung) zerstört?
Die Stadt der Blinden geht im Konzept von Maura Morales und ihrem Kreativ-Team ebenfalls vom Ausgangspunkt der plötzlichen Erblindung aus, um durch den Tanz den Prozess der Entmenschlichung des Kollektivs der Tänzer zu erforschen. Die Augen geben der Bewegung unserer Körper die Richtung. Die Räumlichkeit der anderen Sinne ist eine unpräzise Räumlichkeit. Eine Räumlichkeit, die nicht der linearen Perspektive entspricht, wie sie durch den Blick des Auges definiert ist. Sie entsteht durch das Abtasten der Luft mit den Händen, das unsichere Fortschreiten der tastenden Füße auf dem Boden, die Bestätigung der Distanz oder der Nähe durch Geräusche und Gerüche, die fast immer aus undefinierbaren Richtungen kommen. Die Bewegung selbst löst sich auf und wird zur taktilen Wahrnehmung, wenn sich die Körper windend im Raum suchen.
Für ihre Stadt der Blinden stützt sich Maura Morales auf einige Passagen aus der Novelle von Saramago. In keinem Fall jedoch versucht sie, die gleiche Handlung in Szene zu setzen. Es verbleiben einige Figuren, die einfach als vorübergehende Reflexionen im Spiegel des Tanzes auftauchen. Die zentrale Metapher aus der Novelle von Saramago, die Entmenschlichung des seiner Blindheit überlassenen Menschen, bleibt das verbindende Element während der Entwicklung des Stücks. Was Maura Morales aber vor allem interessiert, ist die Entmenschlichung der Körper im Raum, die Auflösung, der Zerfall der Bewegung.
Wer diese Metapher weiterführen möchte und in diesem Tanzstück ein Spiegelbild unserer aktuellen Entmenschlichung erkennt, liegt sicherlich nicht falsch. Wir leben in einer Blindenwelt, die blind fortschreitet ins Nichts, oder in den Tod – Begriffe, die für Saramago nahezu Synonyme sind.
Die Blindheit, das Nichts, der Tod, Keimzellen des omnipräsenten Gefühls unserer heutige Zeit: Angst.

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