„STADT DER BLINDEN“ – Nachtkritik von Melanie Suchy (24.10.2015 tanzweb.org)
Eine Augenzumutung
Die Cooperativa Maura Morales zeigte “Stadt der Blinden” beim Festival MOVE! in der Fabrik Heeder Krefeld, ein kluges und eindringliches Tanztheaterstück
In Saramagos Roman werden die ersten Erblindeten von der Obrigkeit in eine verlassene Irrenanstalt gesperrt, spärlich mit Nahrung und Seife versorgt und ansonsten sich selbst und ihrem sich vermehrenden Schmutz überlassen, denn natürlich verstopfen die Toiletten bald. Den Gestank kann das Tanzstück nicht auf die Bühne bringen, und ihr Boden bleibt weiß, die Hosen und Shirts der Tänzer ebenso. Auch vermeidet Maura Morales angenehmerweise jegliche Möblierung. Und die Tänzer bleiben stumm. Die erschrockenen Schreie, “ich bin blind”, setzt sie also in Bewegung um, auch die Dialoge und Verhandlungen in der Gruppe. Das bringt den Tanz zur Geltung und seine Fähigkeit, solche Ausnahmezustände, die vielleicht gar keine sind, begreiflich zu machen: das, was in Einzelnen vorgeht, sie erschüttert, die Angst- und Einsamkeitsbeben, innere Krämpfe, das Krümmen, sich groß machen zu wollen, aber nicht zu können, die Abstürze, das stille Herumirren; dazu das, was sich zwischen den Individuen entspinnt. Sie befühlen einander Gesichter und Arme, sie bilden, Hand auf Schulter, eine langsam sich vorwärts schiebende Kette. Fast zu theatralisch.
Wenn sie auf einem kleinen Lichtfleck umeinander trippeln, als könnten sie vor Enge die Berührung nicht vermeiden, ahnt man das Labyrinth der Stadt, und wenn sie schwanken, kippen, hin und her laufen mit seitlich kreuzenden Schritten, dann deutet die Choreografie auf geschickte Weise an, wie etwas die Tänzerblinden antreibt, verwirbelt, letztlich auch verrückt macht, was von außen auf sie einwirkt wie ein Sturm, eine Dürre oder Eingesperrtsein. Was sich untrennbar mit inneren Impulsen verbindet – oder im Grunde dort entsteht? Das ist die Frage. Eine unerschöpfliche Aufgabe für den Tanz. Maura Morales führt hier fort und zusammen, wofür sie in vorherigen Stücken Formen entwickelt hatte, im “Wunschkonzert” einer verklemmten Frau, in der Hysteriestudie “El baile de San Vito”, den zittrig weggetretenen Obdachlosen in “Don Nadie” und bei den sich ausliefernden und am Schluss endlich verweigernden Frauen im etwas halbgaren “Sisyphos war eine Frau”. Zuweilen knirschte die dramaturgische Schlüssigkeit der Unisono-Tanzszenen, diesmal wirken sie weniger einmontierMit den Gruppen- und Solophasen wechseln sich in “Stadt der Blinden” Duette ab. Die Tänzer fallen einander an, Mann-Frau. Das Begrapschen wehrt eine zunächst noch ab. Doch dann sucht sie sich diesen und jenen Mann, es werden Paarungen des Klammerns, Ziehens, Biegens, des Aufeinandersteigens, Griffewechselns und Kopfübers. Dabei suchen zwei Trost, Nähe, Erlösung, Befriedigung, aber “erkennen” einander nicht; hitzig, aber lieblos bleibt es, da sie einander nie in die Augen schauen. Später machen sich die Männer die Frauen untertan, das entspricht der Schurkengruppe im Roman. Auch kämpfen nun Männer miteinander, raufen und ringen, und die beiden Frauen bilden Hand an Hand ein solidarisches und gehetztes Paar. Unterstrichen von Michios Kompositionen aus kalten elektronischen Klängen und schnellen Beats hat die “Stadt” immer seltener Atempausen. Einmal beschert der verbogene Radiosound eines Popsongs den Insassen Freude, sie wiegen sich im Tanz, aber schon etwas verzerrt. Das häufige Straucheln, Tappen und Tasten auf dem Boden lässt sie zunehmend zu Vierbeinern werden. Sie verrohen. Das ist der Gang der Geschichte, der in ihrem Anfang schon angelegt ist. Das überdeutliche Tier am Ende stört diesen bitteren Gedanken nur.
“Gegenwartsbeschreibung”
STADT DER BLINDEN Kritik von Michael S. Zerban, opernnetz.de
Besuch am
19. Februar 2016
Die Hölle, das sind die anderen“, formulierte Jean-Paul Sartre bereits in seinem 1944 uraufgeführten Einakter Geschlossene Gesellschaft. Er bezog sich damit auf die philosophische Frage nach der Freiheit und befand, dass die Freiheit des einen da endet, wo die Freiheit des anderen beginnt. Er unterstellte, dass eine Gesellschaft nur funktionieren könne, wenn jeder einzelne die Verantwortung für seine persönliche Freiheit und folgerichtig somit auch die Verantwortung für die anderen übernimmt. Was aber passiert eigentlich, wenn die Mitglieder einer Gesellschaft nicht mehr in der Lage sind, verantwortlich zu handeln? Diese Frage warf José Saramango 1995 in seiner Novelle Die Stadt der Blinden auf. Er lässt die Menschen als Folge einer Epidemie erblinden – es bleibt nur weißes Licht im Kopf. Eine ratlose Regierung interniert die Hilflosen in einer verlassenen Psychiatrie, um das Volk vor Ansteckung zu schützen.
Der Fortgang der brandaktuellen Metapher ist für die Choreografin Maura Morales unerheblich. In ihrem neuesten Stück interessiert sie sich, wie schon Sartre, für die modellhafte Isolation. Sie allerdings nimmt den Menschen ihres Werkes nicht nur die Sicht, sondern auch die Sprache und reduziert sie auf ihre Körperlichkeit. Für die zwei Frauen und drei Männer auf der Bühne bleibt also nicht mehr viel außer Schweiß, ihre Bewegung und Angst. Existenzielle Angst.
Am 23. Oktober vergangenen Jahres im Ringlokschuppen im Mülheim an der Ruhr uraufgeführt, finden jetzt zwei Aufführungen auf der Studiobühne des Forums Freies Theater in Düsseldorf statt. Der Boden ist weiß ausgelegt, im Hintergrund sind ein paar Gaze-Rahmen aufgehängt, auf die hin und wieder kryptische Videobilder projiziert werden. Klinische Kälte, vom schwarzen Raum der Ungewissheit umgeben. Links vorne hat Komponist Michio seinen Arbeitsplatz aufgebaut: Mit einem Sammelsurium von Computern, Mikrofonen und Klangkörpern erzeugt er einen Klangteppich aus wummernden, streckenweise an den menschlichen Herzschlag erinnernden, mitunter beängstigend ohrenbetäubenden Beats. Nicht ganz so gekonnt setzt Eva G. Alonso das Licht ein. Eine Mixtur aus Weißtönen, die sie in verschiedenen Ausbreitungen platziert, ohne dabei die Wirkung der von hinten nach vorn leuchtenden grellweißen Scheinwerfer auf das Publikum zu berücksichtigen. So bekommt man auch als Zuschauer schon mal nichts außer dem weißen Licht im Kopf zu sehen.
Kaum ist die Eingangstür geschlossen, das Saallicht ist noch an, öffnet sich die Türe wieder und Geraldine Rosteius betritt den Raum in Unterwäsche, einem Unterhemd und langer Hose. Blind stellt sie sich vor das Publikum. Nach und nach betreten auch Elia Lopez, Claudio Rojas, Robert Gomez und Ayberk Esen durch die verschiedenen Zugänge, die das Studio bietet, die Bühne. Alle blind, alle tief verunsichert. Es beginnt ein scheinbar blindes Taumeln durch die Maslowsche Bedürfnispyramide. Die Suche nach Sättigung, Wärme, Verrichtung der Notdurft, räumlicher Orientierung, Sex und Ordnung paart sich mit dem verzweifelten Bemühen, einen Ausweg aus der persönlichen Krise zu finden. Das Wesen Mensch ist plötzlich bar jeder Vernunft, die Angst führt in konvulsivische Zuckungen, Übersprungshandlungen oder Annäherungsversuche, die blitzschnell abgebrochen, um sogleich wieder aufgenommen zu werden. Morales gönnt ihren Tänzern kaum ruhige Phasen, lässt sie gegeneinander, gegen Wände prallen, übereinander herfallen, nie sehend, wohin sie ihr nächster Weg führt. Die existenzielle Bedrohung wird so deutlich wie das Fehlen jeder Solidarität. Jeder nimmt sich auch unter Einsatz von Gewalt, was er kriegen kann, sei es Raum, Nähe oder Irresein. Ekstatische, kurzwährende Verbindungen mit beinahe artistischen Einlagen führen zu umso kräftigerer Abstoßung.
Rund eine Stunde bäumen sich die Psychiatrie-Insassen gegen eine Welt der Orientierungslosigkeit auf, kämpfen gegen eine Wirklichkeit, die sie nie wollten. So furchtbar Morales die Menschen auf der Bühne entblößt, so intensiv sie die Folgen einer Gesellschaft ohne Regeln und Werte offenlegt, so beinahe versöhnlich ist das Ende. Nicht die Auflösung und damit das Verderben, sondern die unendliche Ruhe in der Solidarität steht am Ende dieser Baalschen (Über-)Lebensversuche. Versteht sich fast von selbst, dass nicht alle in das Urvertrauen zurückfinden. Einer bleibt draußen, trotz aller Versuche, in die Gemeinschaft zurückzukehren. Bist möglicherweise du es, lautet die beunruhigende Frage an den Zuschauer.
Der hat eine schier atemlose, erschöpfende Stunde erlebt, in der er nicht nur den Geschehnissen auf der Bühne folgen musste, sondern auch mit dem eigenen Kopfkino zu kämpfen hatte. Selten hat man so wenig und ermatteten Applaus als so wertvoll erlebt wie an diesem Abend im vollbesetzten Haus.
“Stadt der Blinden” beim Festival MOVE! Tänzerin Maura Morales stützt sich in ihrer Choreographie auf Passagen der Novelle und schildert verschieden Stadien des Überlebenskampfes. (Rheinische Post, 27.10.2015)
Krefeld. Der Cooperativa Maura Morales gelingen in der Umsetzung der Literaturvorlage von José Saramago intensive Tanzmomente. Von Isabel Mankes-Fuest
Im Saal ist es noch hell, als die Tänzer der Compagnie Cooperativa Maura Morales nach und nach die Bühne der Fabrik Heeder betreten. Sie sind schauen das Publikum mit intensiven Blicken an, um nach kurzen Drehungen wieder abzugehen und sich an den Rande der Bühne zu stellen. Allein Choreographin und Tänzerin Maura Morales steht noch da: Auf halber Fußspitze führt sie ihre Beine in unglaubliche Höhe, verschränkt Arme und Beine um ihren Körper herum und bricht die eleganten Bewegungen mit zackigen und schnellsten Sprüngen. Immer wieder sucht sie Kontakt zum Boden, aber auch zu ihrem vierköpfigen Ensemble, das sich in der Zwischenzeit wieder auf der Bühne im Viereck versammelt hat.
Erst jetzt geht das Licht im Zuschauersaal aus, gefolgt von einem lauten, bedrohlichen Knallgeräusch. Als Betrachter ist man spätestens jetzt mittendrin, hineingezogen in die “Stadt der Blinden”. Sowohl tänzerisch als auch und schauspielerisch stark führen die Darsteller an diesem zweiten Move!-Festivalabend vor, wie sie die Sehkraft plötzlich verlässt. Taumelnd irren sie herum. Die Musik wird laut, es sind lange, schlagende Töne, die der Musiker Michio live produziert.
Wiederholt versuchen die Tänzer, Bewegungen aufzunehmen. Sie wollen sich aufrichten und knicken dabei immer wieder ein. Es sind unzählige Befreiungsschläge, die die Tänzer mit Intensität und unglaublicher Ausdauer führen. Schöne Formationen entstehen, wenn sie sich im Duett umklammern, sich küssen und wieder fallen lassen. Ihre Zuneigung wirkt schutzlos und kann dem Fortschreiten der Blindheit nicht standhalten. Es folgen angedeutete Fluchtversuche, die die Tänzer zurückwerfen, auf sich und ihre ausweglose Situation.
Maura Morales nutzt für ihre neueste Produktion die literarische Vorlage “Stadt der Blinden” von José Saramago. Der Autor erforscht in seiner Novelle wie eine an “weißer Blindheit” erkrankte Gesellschaft sich nach und nach auflöst. Bei Morales geht es weniger apokalyptisch zu. Sie stützt sich auf ausgewählte Passagen der Novelle und schildert unterschiedliche Stadien des Überlebenskampfes. Dabei entwirft das Ensemble immer wieder neue Bilder, die von der Bewusstwerdung der Erkrankung, von Liebe, Gewalt und Verzweiflung handeln und zum Schluss in der totalen körperlichen Verausgabung kulminieren. All das wird durch die herausragende Leistung der fünf Tänzer deutlich.
Der Werdegang der Düsseldorfer Compagnie ist beachtlich. Maura Morales wurde 2013 mit dem Kurt-Jooss-Preis ausgezeichnet und erhielt 2014 den Förderpreis der NRW-Landeshauptstadt im Bereich Darstellende Künste.
Bei Saramago sorgt die einzige sehende Frau für Anstand und Überleben und wünscht sich doch, das Elend nicht sehen zu müssen. Diese Rolle dirigiert Maura Morales ans Publikum. Mit diesem Anliegen verbrüdert sie sich mit dem belgischen Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui, der am selben Wochenende in Düsseldorf im Tanzhaus NRW gastierte. Sein “Fractus V” handelt auch vom Blindsein, davon, dass man die viele Gewalt vor Augen hat, aber nicht mehr wahrnimmt. Klar, das weiß man längst. Doch in seinen besten Momenten, in beiden Stücken, macht der Tanz einen auf neue Weise sehend.
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